Letzter Tag und Abschlusskonzert unserer Thüringen-Tournee 2023. Holgers Bergstübel in Hermsdorf. Das Konzept ist speziell. Jeden letzten Sonntag im Monat hat Holger irgendwelche sehr gut ausgesuchte Live-Musik im Bergstübl. Das Ambiente ist wohlfühl. Der Eintritt ist frei…
Treffzeit ist 15:00 Uhr. 15:01 Uhr klingelt mein Telefon. Der F.
„Ich wollte Dir nur Bescheid sagen dass ich 15 Minuten zu spät komme.“
Ich sag „Na deswegen musst Du mich nicht extra anrufen, das weiß ich ja selber.“
(siehe z.B. Tagebuch von gestern und ff. Bzw. rückfolgende – rf.)
Ich steig dann so gegen viertel vier schonmal in den astrein vorkonfektionierten Transporter. Ist ja alles noch drauf und noch halb warm von gestern. Und nehme mir vor, dem F ein bissel entgegenzufahren und ihn irgendwo von Schusters Rappen weg aufzulesen. Er läuft von Geisenhain aus seinem Ur-Kinderzimmer, wo er gastiert, nach Tröbnitz zum Proberaum. Aber wie ich so rückwärts rausstoße seh ich schon die sonnenbebrillte Bassistengestalt im Rückspiegel. Und gemeinsam ab.
Wir zwei sind schonmal guter Laune, ein herrlichster Spätsommernachmittag mit knallender Sonne, zwei Engel reisen. Ich hab zwar gestern nach der Mugge Sprechverbot bekommen, damit meine Stimme heute durchhält, aber die Konsequenz in der Umsetzung lässt sich nicht blicken. Man muss ja auch auswerten, und wir zwei beiden sehen uns kaum noch außerhalb der Musik. Lebensentwürfe ändern sich. Also bei mir nicht, aber bei den anderen.
In Hermsdorf angekommen kehrt die Erinnerung der Herausforderung beim millimetergenauen Einfädeln zurück. Man muss mit dem Transporter rückwärts in eine gewundene Einfahrt rein, die von üppiger Vegetation eingerahmt den Einlass zu verwehren sucht. Die Vegetation verüppigt jedes Jahr etwas mehr. Dieses Mal muss sie ein paar Federn lassen. Als ich Veranstalter Holger (im Scherz) frage wie er das macht, wenn dann immer die Nightliner kommen, erzählt er eine Anekdote. Er war ja tatsächlich mal drin bei Big Brother (denke man was man wolle). Er reißt das Thema nur kurz an. Aber er stellte wohl mal hinten an sein Etablissement ein Festzelt aus diesem Anlass (als er endlich raus war?), ein großes. Und das wurde mit einem W50-Auflieger angeliefert. Falls noch jemand weiß was das ist. Und der ist nun eben NICHT da durch wo wir grad durch sind, sondern quer durch die unerschlossenen dahinterliegenden Felder mäandert. Werden wir nächstes Jahr mal testen.
Im Sonntagsnachmittagssonnenschein sitzt mancher im Gärtchen oder auf der Terasse, mit Sonnenhut und Tässchen Kaffee. Nicht so wir Spießgesellen. Hier wird noch von Hand gemuggt. Also heute muss ALLES runter. Wir machen den kompletten Kahn leer. Rundumschlag. Da bleibt kein Auge trocken. Hier wird nicht gekleckert, hier wird geklotzt. Ratzeputz. Das volle Programm. Von hier bis nach China in 5 Minuten.
Auch an diesem Spielplatz sind wir inzwischen eingeübt und es geht uns gut von der Hand. Für das Aufhängen des Banners gibt es im alten Scheunenraum viele schöne alte vergessene Nägel im Gebälk. Wir müssen nur eine Zimmerpflanze wegräumen, eine Strumbotzie. Sie wohnt in einem Blumentopf, der auf einem alten Serviertablett steht. Sie wurde unlängst gut gegossen. Jedoch offensichtlich etwas zu spät, sie sieht sehr tot aus. Sie bekommt trotzdem am Schluss ihren gewohnten Platz zurück, entweder um es zu machen wie der Phönix, unwahrscheinlich, oder wie alles Irdische ganz bald. Vor dem sehr schönen Banner entsteht dann alles wie gewohnt. Es klingt auch sehr gut, besser als gestern. Der F meint – weil es eben unser eigenes Zeug ist. Es ist aber auch weil es der F ist.
Schwierig fürs Publikum ist natürlich die Lage der Bühne im Raum und die Abstrahlung der Boxen. Es ergeben sich ganz viele verschiedene Hörzonen. Aber das geht hier nicht anders.
Letztes Mal hat uns der lokale Star-Bäcker Henry Nützer einen grünen Crayfishkuchen gebacken. Dieses Mal hat er mich gar im Vorfeld angerufen und einen viel weitreichenderen Plan geschmiedet. Wir haben uns in der Woche vorher am Proberaum getroffen und er hat so ziemlich alle Restbestände unserer T-Shirts aufgekauft. Als nun das Publikum so reintröpfelt ist darunter die ganze Belegschaft der Nützerbäckerei – nur dass man die erkennt, weil sie korrekt gekleidet sind. Alle in Crayfish-T-Shirts! Der verrückte Kerl. Und für uns – ich kanns nicht verhehlen – ein durchaus erhebender und schmeichelhafter Anblick.
Aber dann setzt er da noch Zehne drauf. Es beginnt damit dass von irgendwoher von einer Dame ein unglaublich kunstfertig gemachter Flusskrebs (= Crayfish) aus Marzipan gebracht wird. Und dann folgt ein erneut riesiger Kuchen, eine gigantische „Nuss-Ecke“, darauf in Zuckerguss in voller Farbe kunstfertigst der Crayfish-Schriftzug. Ich setze den Krebs drauf und mache Fotos. Es ist unglaublich. Ich möchte nicht wissen was das kostet. Henry sagt – das hat Jochen so bestellt. Ich möchte hier Jochen meinen tiefsten Respekt aussprechen. Wir zahlen stets allen die gleiche Gage aus. Und es gab viele Jahre wo Jochen echt klamm war und immer nach der Gage fragte. Aber dass er jetzt DERART viel privates Geld in so etwas steckt – das zeugt von echter Leidenschaft. Zumindest für Kuchen.*
Wir schaffen den Riesenkuchen unmöglich selber. Deswegen gibt es später am Abend eine Kuchenfreigabe fürs Publikum und großen Spaß.
Aber noch haben wir keinen Ton gespielt. Soundcheck steht, wir atmen kurz durch und bestellen was zu Essen.
Und dann kommt der Pfarrer mit seiner Jana zur Tür reingelatscht. Die ich beide in England wähnte. Sie haben mir extra nichts davon gesagt und alles für diesen Abend aufgespart. Jetzt muss ich kurz ausholen. Für mich ist das ein Tagebuch und kein Protokoll. Emotionen statt Daten. Lest‘s – oder überspringt‘s.
[Interrupt – hier kommen tatsächlich Apostrophe rein! Glaubt’s oder glaubt’s nicht! Während in englischer Sprache das Apostroph bei besitzanzeigenden Wendungen rein MUSS (z.B. Henry’s trousers) kommt es in Deutsch nur da rein, wo ein Buchstabe weggelassen wird. Wie bei „Glaubt’s“ statt bei „Glaubt es“. Es kommt NIIIICHT rein bei Henrys Hosen, Günthers Grill, Franzis Friseurladen und schon gar nicht wahllos überall sonst da wo ein „s“ am Schluss steht. Büros. Montags. Sonstwas.]
Zurück. Den Pfarrer kenne ich seit ungefähr 1987. Ein kleiner Exkurs sei mir gestattet. Kann man vielleicht zusammengedampft so schildern: In der DDR gab es umfangreiche Strukturen, um besondere Talente unter Kindern ausfindig zu machen und zu fördern (Wettkämpfe, Kreiswettkämpfe, Bezirkswettkämpfe, „Olympiaden“). Das wurde auf die Spitze getrieben im Sport. Gab es aber auch in der Mathematik. Von den DDR-Organen als in Mathematik überbegabt eingeordnete Kinder wurden in unser beider Dorfregion ausgefiltert, darunter wir zwei beiden. Oder ich glaube es waren nur wir zwei. Wir wurden in einen Förderkurs zum Ausbau unserer Talente gepackt und lernten uns dort kennen. Später stießen wir noch einmal aufeinander weil wir an der gleichen Schule Abitur machten. Dann verloren wir uns aus den Augen.
Nach Jahren begegnen wir uns wieder und bemerken, dass wir beide lange Haare haben und Metaller sind. Es folgen gemeinsame Konzertbesuche, Festivalbesuche und unvergleichliche zwar biergeschwängerte, aber tiefschürfende Gespräche. Dann zieht die ganze Familie Pfarrer mit zwei Kindern berufsbedingt nach England. Er forscht und programmiert dort an futuristischer Tontechnik. Das war vor gefühlt 15 Jahren, keine Ahnung. Weiter Kontakt, sporadische Besuche. Dann das politische Chaos da drüben. Erst Brexit und dann immer so weiter. Familie Pfarrer erwägt seit längerem, zurückzugermanisieren. Reden wir seit Jahren drüber. Hat nie geklappt, ist ja auch nicht einfach. Wir funken ab und zu übern Teich.
Und nun kommt der Kerl mit seiner Frau hier ins Bergstübel reingelatscht bloß weil er mich überraschen will und hat die ganze Zeit nichts verraten. Die wohnen jetzt 400 m vom Bergstübel weg. Überraschung gelungen. „Pfexit“ vollzogen. Ich bin überglücklich, allerbeste Freunde wieder in der Nähe zu haben.
Falls das absurd wirkt – der Spitzname „Pfarrer“ kommt daher, dass sein Vater Pfarrer ist. Für die nun bestürzten Katholiken: Ein evangelischer Pfarrer. Ein ziemlich „cooler“ wenn man das so salopp sagen darf. Noch eine kleine Anekdote – wobei ich nicht weiß, ob die aufgeschrieben rüberkommt. Über einen gemeinsamen Wacken-Besuch hinweg musste Pfarrer Junior seine Kinder im elterlichen Pfarrhaus zur Pflege einparken. Auf die Rückfrage des Vaters, warum denn schon Donnerstag und nicht erst Freitag meinte Pfarrer Junior – „Wenn wir da Freitag erst ankommen ist dort die Hölle los“. Pfarrer Senior darauf: „Hm hm“. Mit Augenbrauenaufschlag.
[You got it? Pfarrer? Hölle? Sohn dort? Ich habe gelernt dass man heute oft nachfragen und nochmal erklären muss bei komplexeren Witzen.]
Schluss jetzt mit dem Pfarrer. Meine Emotionen gehen euch gar nüscht an hab ich heute auf MDR Aktuell gehört, weil die EU jetzt so Emotionserkennungs-KI verbieten will. Falls ich hier emotional werde sind dann in Zukunft so viele Rechtschreibfehler da drin, dass die KI das nicht mehr versteht. Wisster Bescheid.
Das Essen wird serviert. Die Kollegen haben wie gewohnt opulente wagenradgroße Teller mit fettigem Allerlei bestellt. Ich habe Angst dass ich nicht singen kann und eine Suppe bestellt. Das ist auch fürs Singen dann super. Nur im Unterschied zu den Kollegen hab ich halt dann als alles vorbei ist übelst Hunger. Und der Kühlschrank ist leer.
Wir beginnen. Das Ambiente erinnert mich jedesmal an diese Schlagersendungen – Wernesgrüner Musikantenschänke und so, ich kenn mich da nicht so aus. Und ich gehe auch wieder mit dem Funkmikro durch die Reihen, lege hier und da einen Arm um die Schultern und wackele lustig mit dem Kopf. Wie ich das beim Schlager gesehen habe. Bei den Wildbubser Herzdecken.
Trotz dieses esprit gaulois ist es zunächst recht zäh mit dem Publikum. Aber hier und da zündelt es doch irgendwann. Interessant – obwohl wir 2023 durchgehend komplett die gleiche Setlist fahren (siehe letztes Tagebuch) sind die Reaktionen hier ganz anders als gestern, bei anderen Songs. Naja wahrscheinlich gibt es deshalb mehrere verschiedene Songs.
Irgendwann sind alle auf Betriebstemperatur. Wir kamen mit selbiger noch an von gestern. Die Musikantenschänkenleute sind bald weichgekocht. Der „Nützerbäcker“ hat seine Belegschaft aber sowas von im Griff – die werden sogar zum Tanzen abgeordnet. Bald haben wir eine richtig schöne Sonntagsabend-AC/DC-Party.
Gestern erwähnte ich es erst – da kam einer mit Exemplaren von Crayfishdollar Testausdrucken, schon mit Robin. Heute kommt aber tatsächlich einer gelatscht mit Ur-Ur-Crayfishdollars, natürlich noch mit Frisör, aber ganz und gar noch in Schwarzweiß! Die müssen 20 Jahre alt sein, völlig irre. Er lässt sie sich natürlich signieren. Frisör kann leider nicht unterschreiben weil nicht da. Man halte sich auch mal vor Augen, wie lange diese Band zusammenhält, trotz lauter absurder Persönlichkeiten. Alle noch da bis auf den Frisör, und bei dem wars die Gesundheit, nicht das Absurde.
Nein, das hier ist KEIN Schwarz-Weiß-Bild. Das stammt aus der Zeit, als wir wirklich noch in schwarz-weiß aufgetreten sind. Bunt kam erst viel später. Blöd dass das ausgerechnet ein schwarzes Plektrum ist. Glaubt mir wieder keiner.
Gestern raunte mir der F während der Mugge mal zu, ich solle aufhören so traurige Ansagen zu machen. War mir nicht so bewusst. Ich bin aber auch gerade traurig. Die Lasten sind etwas groß, die Probleme mit meiner Firma wegen der Corona-Nachwirkungen und die Probleme im Privaten mit Todesfällen, Schlaganfällen, Pflegefällen. In dem Fall die Schwiegereltern. Mit 30 ist man selbst noch unsterblich und hält alles aus. Aber das ist bei mir eine Weile her. Jetzt bricht man auch manchmal emotional zusammen. Wenn man auf die Bühne muss – oder darf – sollte davon aber niemand etwas merken. Denn in unserem Fall ist der erklärte Kernansatz, zusammen mit dem Publikum dem Alltag und allen Problemen für kurze Zeit zu entfliehen.
Als dann irgendwann der Hammer fällt glaube ich aber auch, dass das „gelungen“ ist (um es mal mit des Kanzlers Worten zu sagen). Der Kreis war klein und erlesen. Es waren viele treue Seelen und Seelinnen da, die uns seit 20 Jahren besuchen. Sogar Holger, der Sänger der legendären „Molten Pix“ war gegen Ende da und hat mit gefeiert. Und Claus Henneberger, ehemals Rosa, ging steil und hat uns Komplimente gemacht. Man sieht – selbst etliche Profimusiker im Publikum hören auch mal einfach nur Kartoffelsalat. Danke euch allen für einen wunderbaren Rock’n’Roll Abend! Auch wenns morgen früh wieder andersrum pfeifft.
Steffen packt uns allen noch schöne gerechte Kuchenpakete zur Mitnahme für unsere Angehörigen. Die Buchstaben des Bandnamens werden verteilt. Zuhause kann man dann fragen – „Pssst – willst du ein i kaufen?“ „Ein IIIIIIIIIIII?“ „Psssssssssst! Genauuu!“
Wir baun alles wieder ab. Jaja. Sonntag Nacht und man fragt sich. Aber es ist das letzte Konzert der Tournee. Und geübte Hände lassen alles flutschen. Rauswärts wird erneut die Vegetation gefledert. Während die Gäste in ihre Betten fallen und von Montags-Arbeitsbeginn träumen fahren wir noch ins Bandlager und laden alles ab. Anschließend geben wir den Transporter im Firmengelände zurück und laufen im Sternenschein nach Hause. Der F und ich.
Ein bißchen klang das grad wie „Und Pickeldi ging mit Frederik nach Hause.“ Und ein bißchen war es auch so.
* An Henry: Ich gehe selbstverständlich nicht davon aus dass Dir Jochen irgend etwas bezahlt hat. Das liegt ihm nicht so. Bestellen kann er gut, er war Jahrzehnte in der Gastronomie tätig. Wir haben schon Kneipenrechnungen bekommen, wo er Whiskys auf den Deckel der Band ausgegeben hat, halt die Esse fest. Ich mache mich hier auf Deine Kosten lustig darüber. Bitte überdenke Deine Crayfish-Kuchenpolitik! Und nochmal großes Dankeschön, das gab auch zu Hause ein großes Hallo.